Silvia Daun

Immer offen für Neues

Bereits vor vier Jahren hat sie ihr größtes berufliches Ziel erreicht: eine Forschungsprofessur. Heute leitet Silvia Daun in Jülich die Arbeitsgruppe Computational Neurology und lehrt an der Uni Köln Computational Neuroscience. Die 41-Jährige liebt Mathe und singt gern. Ihr Lebensmotto: Das Leben ist zu bunt, um sich nur auf eine Sache zu versteifen.

Die Mathematikerin Silvia Daun arbeitet am Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM-3). Dort entwickelt sie Methoden, um das Gehirn zu verstehen.

Sie gehören zu den 12 Prozent Frauen in der Wissenschaft, die den Sprung nach oben auf eine Professur geschafft haben. Haben Frauen es heute leichter, an die Spitze zu kommen – vor allem in den Naturwissenschaften und in der Mathematik?

Wir haben schon viel erreicht, in diesen Studiengängen sehen wir etwa immer mehr Studentinnen und Doktorandinnen. Aber es liegt noch ein großes Stück Arbeit vor uns: Insbesondere auf der Ebene über der Promotion muss noch mehr getan werden, damit Frauen in Führungspositionen gelangen.

Bild oben: Die Mathematikerin Silvia Daun arbeitet am Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM-3). Dort entwickelt sie Methoden, um das Gehirn zu verstehen.

Wie ist Ihnen der Sprung nach oben gelungen?

Ich habe versucht, mich von den Meinungen anderer freizumachen, die Dinge einfach nicht zu nah an mich heranzulassen. Das hat mir sehr geholfen. Im Studium bin ich zum Beispiel auch gerne in Highheels und kurzem Rock in die Mathe-Vorlesung gegangen – egal, was geredet wurde. Und ja, ich habe Sprüche von Professoren gehört: Frauen gehören eigentlich nicht in die Mathematik. Da wurde bewusst provoziert, um uns Mädels zu verunsichern. Das war mir aber wurscht. Ich wusste, ich kann es. Lasst mich nur die Prüfung machen – dann werden wir schon sehen, ob ich hier hergehöre oder nicht. Aber: Ich hatte auch immer einen Plan B im Hinterkopf, für den Fall, dass Plan A nicht funktioniert oder ich der Wissenschaft den Rücken kehren muss.

Wie sah denn Ihre berufliche Alternative aus?

Die Wirtschaft. Nach meiner Promotion 2006 war ich noch nicht ganz sicher, ob ich Wissenschaft oder Wirtschaft machen will. Dann bekam ich ein Angebot aus den USA. An der Universität Pittsburgh habe ich unter anderem als externe Beraterin gearbeitet und meinen Marktwert in der Wirtschaft getestet. Damals wurde mir bewusst: „Das Leben ist so bunt, es hat so viel zu bieten.“ Diese Lebenserfahrung gebe ich als Mentorin und Tutorin auch immer weiter an meine Studentinnen: Macht die Augen auf, es gibt nicht nur Wissenschaft – auch wenn ich liebe, was ich tue. Man darf sich da nicht festlegen lassen. Es gibt auch andere Bereiche, in denen man sich weiterentwickeln kann.

Sie haben sich dann doch für die Wissenschaft entschieden. Warum?

Nach meiner Rückkehr aus den USA hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft mir im Emmy Noether-Programm eine eigene Nachwuchsgruppe bewilligt – damit nahm die wissenschaftliche Karriere an Fahrt auf.

Was fasziniert Sie an der Mathematik?

Vor allem die Anwendung: An der Uni Köln habe ich mich bis 2014 schwerpunktmäßig mit Laufbewegungen von Stabheuschrecken beschäftigt – die Ergebnisse sind für die Robotik interessant. Aber auch im Energie- oder Finanzwesen, in der Biologie oder Kryptografie oder – wie hier in Jülich – bei neurologischen und neurodegenerativen Erkrankungen wie Schlaganfall und Parkinson – man braucht die Mathematik, um die Phänomene zu verstehen.

Woran forschen Sie in Jülich?

Mein Schwerpunkt liegt auf der Humanbiologie. Im Fokus steht die neuronale Informationsverarbeitung im menschlichen Hirn – und zwar bei der Kontrolle der Motorik: Wenn wir uns bewegen, greifen verschiedene motorische Systeme im Hirn ineinander, die über das Rückenmark unsere Muskeln ansteuern. Uns interessiert, wie das passiert – bei gesunden und kranken Menschen. Früher habe ich die Daten von Biologen bekommen. Jetzt mache ich – und das ist Neuland für mich – die Experimente mit den Probanden selbst, sprich: Ich erhebe Daten mithilfe von bildgebenden Verfahren, aber auch mit dem klassischen EEG, also der Messung von Gehirnströmen. Mithilfe der Daten entwickle ich neue Methoden und Netzwerkmodelle, mit denen ich vorhersagen kann, wie Alterung und neurologische Erkrankungen, zum Beispiel ein Schlaganfall, das koordinierte Zusammenspiel zwischen motorischen Hirnarealen beeinträchtigen und wie Veränderungen der Aktivität und Vernetzung dieser Hirnareale mit beeinträchtigtem motorischem Verhalten zusammenhängen. Und da wir zur Kalibrierung und Validierung der Modelle große Datensätze nutzen, entwickeln wir auch Verfahren zur Datenanalyse.

Das sind dann bereits Arbeiten für den neuen Sonderforschungsbereich „Schlüsselmechanismen physiologischer und krankheitsbedingt gestörter motorischer Kontrolle“?

Genau, wir haben 2021 die Arbeit aufgenommen. Es ist der erste SFB im Bereich der Motorik in den Neurowissenschaften, den die DFG je genehmigt hat. Im Mittelpunkt stehen neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, Parkinson oder die spinale Muskelatrophie, aber auch Tics oder Depressionen. Das sind Krankheitsbilder, die in der Regel mit motorischen Defiziten wie Lähmungserscheinungen oder gestörten Bewegungsabläufen einhergehen und damit die individuelle Unabhängigkeit beeinflussen. Wir – und damit sind Molekularbiologen, Neurobiologen, Neurologen, Mathematiker und Psychologen gemeint – wollen im SFB einen Überblick über die neurobiologischen Grundlagen der motorischen Kontrolle und deren Störungen entwickeln, aber auch individualisierte Therapie-Ansätze entwickeln. Dabei denken wir über alle Ebenen und Altersgrenzen hinweg: Vom einzelnen Molekül bis hin zum gesamten System und vom Kind bis zum Rentner.

Beruflich haben Sie mit Ihrer Professur Ihr Karriereziel erreicht. Welches wissenschaftliche Ziel verfolgen Sie?

Meine Vision ist es, einen Patienten sofort nach dem Schlaganfall behandeln zu können: Dass ich in Echtzeit über unsere Methoden erkenne, wo im Hirn die Störung ist und wie sich diese Störung auf die neuronale Vernetzung im Hirn auswirkt. Anhand dieser Echtzeit-Ergebnisse könnten Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus umgehend eine individuelle Behandlung einleiten.

Das Interview führte Katja Lüers; Foto: Forschungszentrum Jülich / Sascha Kreklau

Letzte Änderung: 05.03.2023