Nicht deckungsgleich

Elektronenmikroskopiker entdecken quasi-chirale Wände in Ferroelektrika

2. September 2016

Der atomare Aufbau ferroelektrischer Materialien ist vielfältiger als bisher gedacht. Dies fand ein internationales Forscherteam durch elektronenmikroskopische Untersuchungen am Jülicher Ernst Ruska-Centrum (ER-C) heraus, einem führenden Zentrum für ultrahochauflösende Elektronenmikroskopie. Ihr Fund könnte neue Einsatzmöglichkeiten für eine spezielle Klasse polarisierter Kristalle eröffnen: sogenannte Ferroelektrika. Die Ideen der Forscher reichen von miniaturisierten Drucksensoren über winzigste Transistoren bis zu hochintegrierten Speichermedien (Nature Communications, DOI: 10.1038/ncomms12385)

Domain-walls-Meldung
Atomar (Punkte) aufgelöste elektronenmikroskopische Aufnahme eines ferroelektrischen Kristalls mit zwei Bereichen unterschiedlicher Polarisierung (Pfeile), den „Domänen“, und der so genannten „Néel-Wand“, die beide Bereiche trennt. Die roten Pfeile zeigen die Richtung des Magnet-Spins an, die Pfeile unten zusätzlich die ferroelektrische Polarisierung.
Forschungszentrum Jülich

Ferroelektrische Materialien werden heute zum Beispiel für den Bau von Rasterkraftmikroskopen eingesetzt, wo sie das exakte Abtasten von winzigsten Oberflächendetails möglich machen, sogar von einzelnen Atomen. Charakteristisch für die Materialklasse ist eine ungleiche Verteilung von Ladungen, eine so genannte „elektrische Polarisierung“. Ursache dafür sind Ionen, die ein wenig aus ihrer eigentlich vorgesehenen Lage verschoben sind. Die Richtung der Polarisierung lässt sich durch Anlegen einer Spannung umkehren und ist nicht im gesamten Material einheitlich: Kleine Felder unterschiedlicher Polarisierung, die „Domänen“, verteilen sich wie ein Flickenteppich. Getrennt sind sie durch wenige Atomlagen dicke, nicht-polarisierte Schichten, so genannte „Wände“.

Die Forscher aus Jülich, Lausanne in der Schweiz, Xian in China und Burnaby in Kanada fanden nun heraus, dass es ferroelektrische Wände gibt, die quasi-chiral aufgebaut sind. Ihre Kristall-Strukturen sind nicht deckungsgleich, sondern verhalten sich wie Bild und Spiegelbild, ähnlich wie die beiden Hände eines Menschen. „Die Quasi-Chiralität unterscheidet die Wände von allen bisher bekannten“, erläutert Dr. Xiankui Wei von der Schweizer Forschungseinrichtung EPFL, der derzeit am Jülicher Peter Grünberg Institut forscht.

„Unsere Entdeckung könnte einen Weg für neuartige nanoelektronische Bauteile bereiten“, sagt Wei. „Theoretische Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Rotation der Polarisierung in ferroelektrischen Kristallgittern eine außergewöhnlich starke elektromechanische Reaktion auslösen könnte. Dieser Effekt könnte eines Tages zur Miniaturisierung elektronischer Komponenten genutzt werden, zum Beispiel für winzige Drucksensoren. Die Erforschung ferroelektrischer Materialien ist noch am Anfang, aber wird durch unsere Entdeckung weiteren Auftrieb erhalten, denn wir müssen genauer verstehen, wie sich die Entstehung der Wände kontrollieren lässt.“

Chirale Wände sind bereits bekannt aus Ferromagneten. Dort trennen sie die verschieden ausgerichteten magnetischen Bereiche. Der Nachweis ferroelektrischer Wände ist jedoch schwieriger, da sie gewöhnlich dünner sind und die angrenzenden Domänen sehr klein, maximal 20 Nanometer.

Am Jülicher ER-C gelang nun das Kunststück. „Die ultrahochauslösenden Elektronenmikroskope im ER-C, die zu den weltweit besten gehören, erlaubten uns, die nur wenige Pikometer großen Verschiebungen von Ionen in unseren Kristallproben zu vermessen und so die Chiralität an den Wänden ohne Umweg abzubilden“, freut sich Wei. Ein Pikometer entspricht einem Milliardstel Millimeter. Eine in Jülich entwickelte Methode, den Kontrast der elektronenmikroskopischen Aufnahmen zu verstärken, war dazu ebenfalls im Einsatz.

Originalveröffentlichung:

Néel-like domain walls in ferroelectric Pb(Zr,Ti)O3 single crystals;
Xiankui Wie et al.;
Nature Communications 7, Veröffentlichung vom 19. August 2016, DOI: 10.1038/ncomms12385

Weitere Informationen:

Peter Grünberg Institut – Bereich „Mikrostrukturforschung” (ER-C-1 / PGI-5)

Ernst Ruska-Centrum für Mikroskopie und Spektroskopie mit Elektronen (ER-C) (engl)

Ansprechpartner:

Dr. Xiankui Wei,  Ernst Ruska-Centrum für Mikroskopie und Spektroskopie mit Elektronen und Peter Grünberg Institut – Bereich „Mikrostrukturforschung” (PGI-5), Forschungszentrum Jülich,
Tel. 02461 61-9338, E-Mail: x.wei@fz-juelich.de

Pressekontakt:

Angela Wenzik, Wissenschaftsjournalistin, Forschungszentrum Jülich,
Tel. 02461 61-6048, E-Mail: a.wenzik@fz-juelich.de

 

Letzte Änderung: 14.03.2022