Wissenschaft(ler) mit Vergnügen

Er liebt Elektrobeats genauso wie Elektrochemie: Rainer Waser passt in keine Schublade. Der Direktor eines Peter Grünberg Instituts am Forschungszentrum Jülich und Professor an der RWTH Aachen ist Visionär und Tüftler zugleich – jemand, der über Grenzen einzelner Fächer hinausblickt, der mitreißt, ansteckt und seine Energie nicht nur in die Forschung steckt. Freude und Spaß dürfen bei dem 67-Jährigen nicht zu kurz kommen.

Sein erstes Chemie-Labor in Heusenstamm wurde gegen seinen Willen geschlossen – damals sprang im elterlichen Souterrain der Funke nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes über, sondern zündete auch im Geiste: Der 15-jährige Rainer Waser wollte Chemiker werden, musste seinen Eltern aber nach dem unerwünschten realen „Funkenflug“ versprechen, dass er sein „Kellerlabor“ erst wieder eröffnet, wenn er tatsächlich Chemie studiert. „Und damit habe ich dann 1974 begonnen“, erinnert sich der 67-Jährige. Und das Labor einen Raum weiter neu eröffnet – in der etwas größeren Kellertoilette: „Da hatte ich gleich Wasser und elektrische Anschlüsse.“ Über viele Jahre experimentierte der mittlerweile vielseitig international vernetzte Wissenschaftler in diesen vier Wänden; tüftelte, bohrte und baute Versuchsstände auf, aber auch elektronische Systeme wie Verstärker und Lautsprecher. „Da habe ich mein ganzes Taschengeld investiert“, sagt Waser und lächelt – etwas, das der Direktor des Peter Grünberg Instituts gern und viel tut: „Wissenschaft mit Vergnügen“, lautet sein Motto.

Grenzen überschreiten und Disziplinen neu zusammendenken

Die Anekdote aus Wasers Jugend offenbart viel über den erfolgreichen Naturwissenschaftler und Ingenieur, der 2014 für seine Forschung zu resistiven Schaltern als Speicher in der Informationstechnologie den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis erhielt: Waser ist jemand, der gerne Disziplinen neu zusammendenkt, der keine Angst hat, Grenzen zu überschreiten, und dabei sein Team selbstbewusst und sicher anführt, immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen und Lösungen – im Dienste der Wissenschaft und der Gesellschaft: „Interessante Forschung findet oft an den Schnittstellen der Disziplinen statt“, resümiert Waser.

Bestes Beispiel dafür ist seine Forschung zu memristiven Bauelementen. Diese weisen ähnliche Eigenschaften wie Nervenzellen im menschlichen Gehirn auf und gelten daher als vielversprechende Basis für neuromorphe Schaltungen. Mit diesen ließen sich energieeffiziente Rechner nach dem Vorbild des Gehirns aufbauen, wie man sie etwa für KI-Anwendungen benötigt. Waser hatte herausgefunden, wie die Bauelemente auf atomarer Ebene funktionieren und damit den Grundstein für deren technische Nutzung gelegt.

„Interessante Forschung findet oft an den Schnittstellen der Disziplinen statt.“

RAINER WASER

Seiner Zeit stets voraus

Klingt futuristisch, aber der zweifache Familien- und vierfache Patchwork-Vater war und ist seiner Zeit schon immer ein Stück voraus: Für seine Promotion Anfang der 1980er Jahre an der Technischen Universität (TU) Darmstadt baute er einen vollautomatischen, computergesteuerten Messstand: „Heute ist das Standard, aber damals gab es das noch nicht“, erzählt Waser. Er lässt sich aus England, wo er als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes in Southampton zwei Auslandssemester verbracht und seine erste Veröffentlichung publiziert hatte, einen Z 80 kommen: „Der Computer bestand aus einer einzigen riesigen Platine und tausend Einzelteilen – ohne Bildschirm oder Speicher“, erinnert er sich. Selbst die Software muss der Doktorand selbst schreiben – in Maschinensprache. Ans Scheitern verschwendet er dabei keinen einzigen Gedanken. Am Ende fehlt nur ein elektrochemisches Messsystem, ein sogenannter Potentiostat, – 5000 DM soll er kosten – Geld, das das Institut nicht aufbringen kann. Waser wettet mit seinem Doktorvater Konrad Georg Weil um ein Essen, dass es ihm binnen einer Woche gelinge, das Gerät selbst zu bauen. Der Doktorvater verliert. „Ich habe kaum geschlafen und rund um die Uhr in meinem Souterrain-Labor gebohrt, gelötet und gemessen. Die Platinen habe ich mit der Höhensonne meiner Mutter belichtet. Klingt schon ein bisschen verrückt“, erzählt Waser. Sogar einen Bildschirm integrierte er in den Messstand, und zwar den ausrangierten Schwarz-Weiß-Fernseher seiner Großmutter. Geht nicht, gibt es in Wasers Leben nicht. Spricht er über seine Forschung, tut er es mit einer Begeisterung, der sich niemand entziehen kann – immer mit einem leisen Lächeln oder Schmunzeln, höflich, nie aufdringlich, aber voller Energie und Tatendrang.

Verschiedene Disziplinen und Forscher:innen aus aller Welt - etwa aus dem neuromorphen Computing, den Neurowissenschaften sowie der Künstlichen Intelligenz -möchte Rainer Waser im Juni 2024 bei einer internationalen Konferenz in Aachen zusammenbringen. "Da will ich den Austausch noch einmal vorantreiben“, sagt er.

Zur Person:

Geboren in Darmstadt am 16. September 1955, studierte Rainer Waser Chemie an der TU Darmstadt, an der er nach einem Forschungsaufenthalt in Southampton auch promovierte. Anschließend war er acht Jahre in der Industrie tätig, bevor er 1992 als Professor an die Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik der RWTH Aachen berufen wurde. Seit 1997 ist er zugleich Direktor des Peter Grünberg Instituts für elektronische Materialien (PGI-7) am Forschungszentrum Jülich. Er gilt als einer der meistzitierten Vertreter seiner Forschungsgebiete.

Seine aktuelle Forschung ist darauf ausgerichtet, Speicherelemente zu verkleinern und auf diese Weise energieeffizienter zu machen. 2014 erhielt den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den wichtigsten und höchstdotierten Forschungsförderpreis in Deutschland. Unter anderem gelang es ihm, das Strukturwandelprojekt „NEUROTEC“ einzuwerben, um gemeinsam mit Unternehmen und Forschungseinrichtungen im Rheinischen Revier Basistechnologien für neuromorphes Computing und andere alternative Konzepte zur herkömmlichen Computertechnologie zu entwickeln. Das Projekt ist Ende 2021 in die zweite Phase gegangen und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung bis 2026 mit 36,5 Millionen Euro gefördert.

Grenzenlose Musik

Seine Begeisterungsfähigkeit endet jedoch nicht mit seiner Liebe zu Elektrochemie und Physik: So nutzte er die Zeit zwischen Abitur und Studienbeginn, um Vorlesungen in Frankfurt und Darmstadt zu besuchen: Quantenmechanik, Philosophie und Musiktheorie – der wissbegierige, junge Waser nahm alles mit – „auch wenn vieles damals weit über meinem Kenntnisstand lag“. Ganz nebenbei schrieb er in jener Zeit eine Facharbeit zur Soziologie der Musik, die später auf europäischer Ebene ausgezeichnet wurde. Überhaupt Musik: Auch da lässt sich Waser keiner Schublade zuordnen. Der fast 1,90 Meter große Mann hört mittelalterliche Klänge ebenso gern wie Metal, Klassik, elektronische Beats oder Weltmusik. Sitzt er in seinem Aachener Home-Office am Rechner, hört er dabei stets Musik. Eines seiner eindrücklichsten musikalischen Erlebnisse: der Besuch des belgischen Tomorrowland-Festivals 2015, ein Mekka für Techno- und Rave-Fans – mit 59 Jahren: „fantastisch“, schwärmt er noch heute. Als er einige Monate später seinen 60. Geburtstag feiert, dient ihm das Festival mit Märchenkulisse als Vorlage: „Erst gab es viele großartige wissenschaftliche Vorträge und später wurde unter dem Motto „60 Years of Craziness“ kostümiert getanzt – Wissenschaft mit Vergnügen“, so der Professor für elektronische Materialien.

Entspannt die 100 ansteuern

2024 ist offiziell Schluss. Seiner „After Work“-Zeit sieht er gelassen entgegen: „Niemand hält mich ja davon ab, weiterzumachen. Aber was ich konkret weitermache, weiß ich noch gar nicht.“ Auf jeden Fall will er der Philosophie mehr Zeit widmen. „Und mehr Sport steht auch auf dem Plan“, sagt Waser, der einen Drachenflugschein besitzt und Ski- und Rollschuhlaufen kann. Momentan beschränkt er sich auf wenige Minuten Trampolinspringen im eigenen Haus – natürlich zu Musik: „Da bringe ich binnen kürzester Zeit meinen Puls einmal am Tag gezielt auf 130. Das ist gesund und schont die Gelenke.“ Effizientes Training, um mehr Zeit für seine Arbeit zu haben. Extremsportarten wie Base-Jumping oder Sky-Diving faszinieren ihn, ausüben will er sie aber nicht mehr, da sei ihm die Verletzungsgefahr zu groß – auch, um sein langfristiges Ziel zu erreichen: Als 100-Jähriger will er nämlich eine große Geburtstagsparty schmeißen, bei der er die Musik auswählt und tanzt: „Notfalls auch mit Hilfe eines Exoskeletts“, sagt Rainer Waser und lächelt. Zuzutrauen ist es ihm.

Neuromorphes Computing: So effizient werden wie das Gehirn

Memristive Speicherbauelemente, auch Memristoren genannt, gelten als äußerst schnell, energiesparend und lassen sich sehr gut bis in den Nanometerbereich miniaturisieren.
Forschungszentrum Jülich/Sascha Kreklau

Mehr Leistung, weniger Energieverbrauch – so stellen sich Forscher:innen den Computer der Zukunft vor. Ermöglichen soll das eine neue Art von Rechnern: die neuromorphen Computer. Kernstück sind sogenannte memresistive Bauteile, die nach dem Vorbild des menschlichen Gehirns arbeiten.

Unser Gehirn benötigt für bestimmte Aufgaben, etwa das Erkennen von Mustern und Sprache, nur rund ein zehntausendstel der Energie, die ein herkömmlicher Rechner dabei verbraucht. Einer der Gründe: In den Computern sind Speicher und Prozessor voneinander getrennt, es müssen ständig große Mengen an Daten hin- und hertransportiert werden. Das kostet Energie und bremst die Berechnungen aus. Anders im Gehirn: Dort wird direkt im Datenspeicher, den biologischen Synapsen, gerechnet.

Memresistive Bauteile, zu deren Entwicklung Rainer Waser mit seinen Teams in Jülich und an der RWTH Aachen maßgeblich beigetragen hat, greifen dieses Prinzip auf. Sie können Informationen über einen einstellbaren Widerstandswert speichern und zugleich verarbeiten. Außerdem sind die Bauteile anschlussfähig an herkömmliche Mikroelektronik und lassen sich sehr gut bis in den Nanometerbereich miniaturisieren. Von entsprechenden neuromorphen Systemen könnten insbe- sondere Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen profitieren.

Im Projekt NEUROTEC, das Rainer Waser koordiniert, arbeiten die Partner an praxisorientierten Demonstratoren für KI-Anwendungen. Damit wollen sie zeigen, wie viel effizienter neuro-inspirierte KI sein wird. Das Projekt ist Ende 2021 in die zweite Phase gegangen und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung bis 2026 mit 36,5 Millionen Euro gefördert.

Text: Katja Lüers | Foto (oben): Forschungszentrum Jülich/Sascha Kreklau

Ansprechperson

Prof. R. Waser

Director of Electronic Materials (PGI-7)

  • Peter Grünberg Institut (PGI)
  • Elektronische Materialien (PGI-7)
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Raum 21
+49 2461/61-5811
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Text erschienen in effzett Ausgabe 2-2023
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Letzte Änderung: 18.02.2024